Die Sauropoden gehören zu den erfolgreichsten Wirbeltiergruppen überhaupt. Mit einer unglaublichen Artenvielfalt dominierte die Reptiliengruppe, die vor allem für ihre Riesensaurier bekannt ist, große Abschnitte des Erdmittelalters. Doch neue Fossilien aus Polen zeigen, dass die Sauropoden den Riesenwuchs nicht gepachtet hatten. Zumindest in der ersten Epoche des Erdmittelalters gab es einen Konkurrenten. In “Science” wird er vorgestellt.
Ungeschlacht und ausgesprochen behäbig schob sich vor rund 220 Millionen Jahren ein gewaltiges Ungetüm durch eine locker bewaldete Flusslandschaft der späten Trias. Lisowicia bojani war ungefähr so hoch wie ein ausgewachsener Afrikanischer Elefantenbulle von heute, brachte aber mit rund neun Tonnen Gewicht rund die Hälfte mehr Gewicht auf die Waage. Damit war das Tier so schwer wie die frühesten Vertreter der Riesensaurier, die zur selben Zeit lebten und sich anschickten die Welt zu beherrschen. “Es sah aber ganz anders aus als diese”, erläutert Grzegorz Niedzweidski von der Universität Uppsala, der das Tier zusammen mit Tomasz Sulej von der Polnischen Akademie der Wissenschaften in einer Tongrube in Schlesien ausgegraben und jetzt in “Science” vorgestellt hat, “Hals und Schwanz waren relativ kurz, dafür hatte es einen extrem großen Kopf und einen mächtigen Rumpf.” Lisowicia sah wohl eher so aus wie ein fremdartiges Riesennilpferd mit einem Papageienschnabel.
Das 220 Millionen Jahre alte Fossil ist nicht nur das eines weiteren bisher unbekannten Urzeitriesen, es kratzt heftig am Bild von der Trias, das sich die Paläontologen zugelegt haben. “Als wir die ersten Knochen identifizierten, haben wir uns gesagt: OK, das ist ein weiterer Riesensaurier, wie man sie in Deutschland schon oft gefunden hat”, erzählt Niedzweidski, “aber mit jedem weiteren Knochen wurde klar, das ist kein Saurier, das ist ein säugetierähnliches Reptil, ein Dicynodont.” Dicynodontier sind nur weitläufig mit den Säugetieren verwandt, sie sind so etwas wie eine Schwestertiergruppe. Sie hatten ihre große Zeit im Perm, während in der Trias ihr Stern nach vorherrschender Paläontologenmeinung im rapiden Sinkflug war. “Dieser Fund zeigt, dass diese Gruppe noch viel länger als bisher gedacht erfolgreich war und wir über diese Tiere eigentlich nur sehr wenig wissen”, erklärt Jens Lallensack, vom Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie, und Paläontologie der Universität Bonn, wo sich um den Paläontologen Martin Sander ein Expertenteam für die Entwicklung des Riesenwuchses im Erdmittelalter gebildet hat.
Innovativ selbst auf dem absteigenden Ast
Die Dicynodontier widersetzten sich ihrem Ende demnach nicht nur überraschend energisch, sie waren dabei auch noch ausgesprochen innovativ. Denn Riesenwuchs ist das Rezept der erfolgreichsten Dinosauriergruppe überhaupt, der Sauropoden. Deren Stammväter begannen zum Ende der Trias mit der Gewichtszunahme und erreichten Regionen von zehn bis zwölf Tonnen. Während des anschließenden Jura erreichte der Riesenwuchs unter Sauropoden seinen Höhepunkt, als Arten wie Argentinosaurus mehr als 70 Tonnen wogen, während andere Vertreter Längen von über 30 Meter aufwiesen. Riesenwuchs aber bedeutet nicht nur eine ungeheure Zunahme an Körpermasse, er setzt auch gravierende Veränderungen in Körperbau und Stoffwechsel voraus. “Körpergröße bestimmt sehr viele Aspekte der Anatomie und Biologie des Tieres”, betont Jens Lallensack.
Und so war Lisowicia nicht nur eine ungeheuer aufgepumpte Version früherer säugetierähnlicher Reptilien, die maximal ein oder zwei Tonnen schwer wurden. Die Art brachte etliche anatomische Neuerungen mit, was dann wiederum bei einer Tiergruppe überrascht, die kurz vor dem Aussterben stehen soll. “Seine Vorderbeine waren ungewöhnlich, denn sie standen nicht wie bei anderen Dicynodontier seitwärts vom Körper ab, vielmehr standen sie fast senkrecht unter dem Rumpf”, berichtet Grzegorz Niedzweidski. Alle Säugetiere und auch die riesigen Sauropoden des Jura haben die Beine senkrecht unterhalb des Körpers. “Das ist zwingend notwendig, um so einen Größenzuwachs überhaupt hinzukriegen”, so Jens Lallensack, “das ist aber auch ein großer evolutionärer Schritt, weil man dafür auch die komplette Muskelkonfiguration entsprechend ändern muss.”
Riesenform ohne Vorläufer
Und genau an dieser Stelle wird es bei den säugetierähnlichen Reptilien interessant, denn außer Lisowicia kennt man keinen Vertreter, der diese evolutionäre Anpassung auch nur angefangen hat. “Die interessante Frage ist, wie flächendeckend der Gigantismus bei Dicynodontiern war”, schreibt der Riesenwuchs-Experte Martin Sander von einem Forschungsaufenthalt in China, “Dinosaurier dieser Größenordnung waren in der späten Trias schon weit verbreitet.” Die Antwort auf diese Frage muss derzeit ausbleiben, denn die fossile Überlieferung schweigt dazu. Der Riese aus der schlesischen Tongrube taucht unvermittelt und ohne Vorläufer in der fossilen Überlieferung auf und er ist unter den Dicynodontiern eine einzigartige Erscheinung. “Generell kennt man säugetierähnliche Reptilien nur von wenigen Fossillagerstätten aus der Welt. Da der Fossilbericht so lückenhaft ist, ist es durchaus denkbar, dass es da viel mehr gegeben hat, als wir bisher von Fossilien kennen”, meint Sanders Mitarbeiter Jens Lallensack. Auch Grzegorz Niedzweidski hofft auf neue Funde: “Lisowicia ist zurzeit ein großes Rätsel, vielleicht finden wir in der Zukunft eine Antwort, aber die gelingt nur mit neuen Funden.”
Dann gelingt vielleicht auch die Antwort auf die Frage, was überhaupt das Riesenwachstum im Erdmittelalter auslöste. Bislang hieß es häufig, dass die Sauropoden eine innovative Kombination verschiedenster Körpermerkmale entwickelt hatten, von senkrechten Säulenbeinen über die Kombination von langem Hals mit kleinem Kopf bis hin zu extrem leistungsfähigem Stoffwechsel. Die Existenz eines vergleichsweise primitiven Dicynodonten, der bis auf die mehr oder weniger senkrechten Beine keines dieser Merkmale aufweist, deutet darauf hin, dass die Sauropoden-Anatomie nicht die einzige Ursache sein kann.
Quelle: planeterde.de